Vormundschaftsbuch (Reisbach)

Aus RegioWiki Niederbayern
Wechseln zu: Navigation, Suche
Das alte Vormundschaftsbuch von Reisbach.

Das Vormundschaftsbuch von Reisbach der Jahre 1636 bis 1679 ist das älteste Dokument im Marktarchiv. Es wurde 2009 entdeckt.

Entdeckung

Als ehrenamtlicher Archivpfleger für den Landkreis gehört es zu den Aufgaben Manfred Niedls, sich einen Überblick über die heimatlichen Archive und deren Schätze zu verschaffen. Als er das Archiv des Marktes Reisbach im Rathauskeller besichtigte, weckten drei Bände sein besonderes Interesse, auf deren Buchdeckeln gedruckte lateinische Texte zu erkennen waren. Die kunstvollen Beschriftungen dieser Amtsbücher besagten, dass es sich um das Vormundschaftsbuch der Jahre 1636 bis 1679, das Briefprotokoll für 1670 bis 1687 und das Verhörsprotokoll von 1680 bis 1700 handelte.

Ein Verzeichnis wies das Vormundschaftsbuch als das älteste Dokument im Marktarchiv aus. In Zeiten, als die Lebenserwartung wesentlich geringer war als heute, verloren viele Kinder früh ihre Eltern. Wie das Vermögen der Waisen durch Vormunde verwaltet wurde, kann man im Vormundschaftsbuch verfolgen.

Briefprotokoll

Im Briefprotokoll wurden Rechtsgeschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, wie Kaufverträge oder Testamente, beurkundet. Der Titel „Verhörs Prothocol Des Churfürstlichen Marckhts Reispach“ lässt vermuten, dass in diesem Band lediglich Prozesse protokolliert wurden. Tatsächlich kann man darin aber auch lesen, wie Ratswahlen abgehalten, das Bürgerrecht verliehen oder das Gewicht der Brote und Semmeln überprüft wurde.

Es eröffnet damit einen einmaligen Blick auf das Leben im Markt Reisbach während der beiden letzten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts. Am 21. März 1684 wurde der Binder Simon Schelhamber für den verstorbenen Sattler Georg Schelter zum Kämmerer gewählt. Sein Amt ist dem eines heutigen Bürgermeisters vergleichbar.

Der Fall Schelhamber

Ausgerechnet die „Eheschaidung“ Schelhambers ist der wohl ungewöhnlichste und umfangreichste Fall im gesamten Protokoll. Die Zivilehe wurde in Bayern 1875 eingeführt, erst seitdem können sich Katholiken zumindest in den Augen des Staates scheiden lassen. Bis dahin gab es ausschließlich kirchliche Trauungen. Es galt: „Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.“ Möglich war aber, vor dem Bischöflichen Konsistorium auf Nichtigkeit der Ehe oder auf Trennung von Tisch und Bett zu klagen.

Der Markt Reisbach als unterste Instanz der weltlichen Gerichtsbarkeit war dabei vor allem für Vermögensstreitigkeiten zuständig. Am 13. Mai 1683 klagte Schelhamber erstmals vor dem Rat des Marktes Reisbach gegen sein Eheweib Anna, weil diese sich nicht an das Eheversprechen halten würde. Mit seiner verstorbenen Gattin habe er 24 Jahre ehrlich gehaust, jetzt aber komme er in Spott und Schande. Seine Ehefrau habe nicht ein gutes Wort für ihn übrig und glaube anderen Leuten mehr als ihm, jüngst habe sie ihn sogar zum Haus hinaus gestoßen.

Zumal sich Anna Schelhamber zu den Vorhaltungen nicht äußerte, blieb dem Marktrat nur übrig, die Eheleute zum friedlichen Zusammenleben aufzufordern. Eine Woche später klagte Anna Schelhamber ihrerseits gegen den Gemahl, weil dieser heimlich 600 Gulden aus einer versperrten Truhe entnommen hatte. Der Rat verfügte, dass das nicht unerhebliche Vermögen – Anna war die Witwe des Müllers auf der sehr stattlichen Bruckmühl bei Reisbach – einstweilen beim Markt deponiert werden musste. Ausnahmsweise einmal einhellig fluchten die beiden Eheleute über diesen Bescheid. Anna wurde daraufhin zu einer Buße von zwei Pfund Wachs an die örtliche Pfarrkirche verurteilt.

Simon Schelhambers Wortwahl war offenbar äußerst deftig, er sollte sich wegen Gotteslästerung vor dem kurfürstlichen Gericht verantworten. Die Verhandlung beim Konsistorium in Regensburg fand 9. August 1683 statt. Anna klagte wegen angeblicher grober Misshandlungen auf eine dauerhafte Trennung von ihrem Ehemann, um die noch übrige wenige Zeit ihres Lebens in Ruhe verbringen zu können. Anders als das Auftreten Simon Schelhambers vor dem Reisbacher Marktrat vermuten ließe, wollte dieser weiter mit seinem Eheweib zusammenleben. Das bischöfliche Ehegericht befand, dass die Gründe für eine Trennung nicht ausreichten. Beide mussten geloben, künftig wieder so zu hausen und zu leben, wie es christlichen Eheleuten gebührt.

Nichtsdestotrotz kam es am 16. November vor dem Marktrat zu einem heftigen Wortgefecht. Anna Schelhamber klagte, dass sie mit ihrem Ehemann friedliebend hausen solle, aber nichts als Widerwärtigkeiten habe. Simon Schelhamber antwortete, er wäre jederzeit willig und bereit gewesen, mit der Klägerin in Einigkeit zu leben. Sie aber vernachlässige die Sauberkeit ihrer Stiefkinder, von ihrer Küche müssten alle „crepiren“. Sie habe erklärt, dass man schon bessere als ihn geköpft hätte, er sei ein Schelm – damals eine ernste Beleidigung – und so weiter. Am 10. Dezember 1683 klagte Simon Schelhamber erneut vor dem bischöflichen Ehegericht, weil seine Gattin nicht mit ihm hausen wollte. Anna bat wieder um die Trennung. Dem Verhörprotokoll kann man entnehmen, dass die Eheleute zu Beginn des Jahres 1684 auf zwei Jahre geschieden wurden, gemeint ist damit wohl eine Trennung von Tisch und Bett.

Sehr interessant wären dazu die Aufzeichnungen des bischöflichen Ehegerichts, aber leider ist der einschlägige Band nicht erhalten. Nach der zweijährigen Frist wäre jedenfalls eine erneute Verhandlung vor dem Konsistorium fällig gewesen, allerdings starb Anna Schelhamber Anfang Februar 1686. Indes ließ nicht einmal der Tod der Gattin Frieden einkehren. Schelhamber und die Erben seiner Ehefrau verwickelten sich in jahrelange finanzielle Streitigkeiten, noch 1691 prozessierte der Witwer um angeblich noch ausständiges Heiratsgut, unter anderem das Hochzeitsgewand, eine Kuh und ein Bett.

Allzu sehr zu Herzen nahm sich Simon Schelhamber diesen „Rosenkrieg“ offenbar nicht, er starb erst 1711 als achtzigjähriger Greis - ein damals geradezu biblisches Alter.

Literatur